Urteil des Monats: Mai 2014
  
"Blindquittung und andere Beweismittel"

Die moderne Transportwelt zeichnet sich durch eine Vielzahl, im Rahmen einer Lieferkette beteiligter Personen, Transportmittel und Verkehrsträger aus. Folglich stellt im Rahmen der rechtlichen Begutachtung eines Transportschadenfalles die Aufklärung unzähliger zwischen den Parteien streitiger Sachverhaltsdetails die Gerichte vor erhebliche Probleme. Zum einen beanspruchen umfangreiche Beweisaufnahmen einem erheblichen zeitlichen Rahmen, zum anderen ist die Bewertung von Darlegungs- und Beweislast, von einzelnen Beweismitteln sowie deren rechtliche Einordnung komplex.

Dies hat sich wieder einmal im vorgestellten Urteil des OLG Frankfurt am Main gezeigt.

Der verkürzte Sachverhalt stellt sich vereinfacht wie folgt da:

Die Klägerin beauftragte die Beklagte, den grenzüberschreitenden Straßentransport von 3 kg Carboplatin im Wert von zirka 77.00 Euro. Die Ware sollte aus einem von der Streithelferin der Klägerin in deren Auftrag geführten Lager von der Streithelferin der Beklagten als Unterfrachtführerin abgeholt werden.

Also erschien der als Fahrer für die Streithelferin der Beklagten tätige K. mit seinem Transportfahrzeug an der vereinbarten Ladestelle. Der K. wartete im Fahrzeug, während der für die Streithelferin der Klägerin tätige Zeuge A. das klägerische Transportfahrzeug mit diversen Packstücken belud. Neben den unstreitig geladenen Packstücken wurde durch den A. auch das Carboplatin gescannt. Nach dem Ladevorgang begaben sich A. und K. zum Ladebüro der Streithelferin der Klägerin. Der K. zeichnete die ihm dort vorgelegte Ladeliste unterhalb des Vermerks "obige Sendung erhalten" ab. Eine vorherige Kontrolle durch den K. erfolgte nicht. Während des zirka 10 minütigen Aufenthaltes im Ladebüro blieb das Transportfahrzeug unbeaufsichtigt und ungesichert. Zwischen den Parteien streitig war der Zeitpunkt, zu dem das Transportfahrzeug durch den K. verplombt wurde.

Nach dem Entladen des Transportfahrzeugs war das Carboplatin nicht mehr vorhanden. Weiter war zwischen den Parteien streitig, ob die verschwundene Ware überhaupt mit dem verplombten Transportfahrzeug zur Entladestelle transportiert worden war. In erster Instanz wurde die Lage abgewiesen, das OLG Frankfurt hat das Urteil - jedenfalls im Ergebnis - bestätigt.

Insbesondere sollen vorliegende zwei wesentliche Kernaussage des OLG genauer beleuchtet werden. So hat sich das Gericht intensiv mit der Frage beschäftigt, zu welchem Zeitpunkt di Obhutübernahme der Ware im Sinne des Artikel 17 Abs. 1 CMR bzw. § 425 Abs. 1 HGB erfolgt. Anschließend hat das Gericht bemerkenswerte, weil von der bisherigen OLG Rechtsprechung abweichende - Aussagen zur Beweiskraft von "Blinden" Quittungen getätigt.

  1. Obhutübernahme
    Nach Auffassung des Gerichts und der Fachliteratur problematisch ist die Bestimmung der Obhutübernahme in jenen Fallkonstellationen, in denen der Absender das Gut zu verladen hat. Vertreten wird nämlich zum einen, dass der unmittelbare Besitz an der Ware in solchen Fällen erst mit dem verschließen des Beförderungsmittels durch den Frachtführer erlangt wird, während hiervon abweichend andere Stimmen die unmittelbare in Besitznahme bereits dann bejahen, wenn die Ware auf der Ladefläche abgesetzt wird.
    Im Ergebnis ließ das OLG diesen Streit unentschieden. Jedenfalls mit dem Aufbruch von A. und K. zum Ladebüro habe die Streithelferin der Beklagten (und somit letztlich die Beklagte selbst) die auf dem Transportfahrzeug befindlichen Frachtstücke in Obhut genommen. Nach allgemeiner Verkehrsauffassung seien nämlich die auf der Transportfläche eines offenstehenden Transportfahrzeugs stehenden Waren dem Frachtführer zuzuordnen. Dies gelte auch dann, wenn sich das Fahrzeug auf dem Gelände eines Dritten befindet. Unabhängig vom Zeitpunkt der Verplombung war der reine Ladevorgang nämlich abgeschlossen.

  2. „Blinde“ Quittung
    Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung u.a. des K. und des A..Im Rahmen der diesbezüglichen Beweiswürdigung tritt ein häufig anzutreffendes Dilemma zu Tage, nämlich der aufgrund des subjektiven Empfindens der befragten Zeugen eingeschränkte Beweiswert von Zeugenaussagen. Nach den Feststellungen des OLG war nämlich weder bewiesen, dass das Carboplatin durch den A. auf die Ladefläche des Transportfahrzeugs verbracht worden war noch dass diese in dem Zeitraum zwischen Scannen und geplanter Verladung abhanden kamen. Weder der Zeuge A noch der Zeuge K scheint dem OLG letztlich genügend Glaubwürdigkeit zuzubilligen. Das Gericht führt nämlich - u.a. gestützt auf vermeintliche Erinnerungslücken der befragten Zeugen - aus, dass es jedenfalls nicht ausgeschlossen sei, dass der Zeuge A die Ware nach dem Scanningvorgang entwendet hat. Ebenso wenig sei es nach Auffassung des Gerichts möglich, dass der Zeuge K die Ware entwendete, bevor er die Plombe anbrachte. Schließlich sei es überdies denkbar, dass die Ware in der Zeit, in welcher der LKW unbeaufsichtigt von den im Ladebüro befindlichen A und K in der Lagerhalle stand, von einem Dritten entwendet wurde.
  3. Folglich musste sich das Gericht umfangreich mit weiteren ihm angebotenen Beweismitteln auseinandersetzen.
    Schließlich hatte der Zeuge K durch seine Unterschrift unter den Vermerk "obige Sendung erhalten" auf dem Ladeschein - vermeintlich - bestätigt, die vollständige Ladung erhalten, das heißt in seine (vielmehr jene der Beklagten) Obhut genommen zu haben.

Das Gericht hielt die abgezeichnete Ladeliste für eine Quittung im Sinne des § 368 BGB.

Entgegen bisheriger OLG-Rechtsprechung konnte aus der Unterzeichnung der Ladeliste durch den K. vorliegend jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass der quittierte Erhalt der vollständigen Sendung tatsächlich auch erfolgt war. Vielmehr sah das OLG einen Verstoß gegen § 286 ZPO. Weder war es der Klägerin nach Ansicht des OLG gelungen, Beweis zu führen für die ordnungsgemäße Beladung durch Zeugenbeweis noch durch Vorlage des unterzeichneten Ladescheins.

Das Gericht ging sogar noch weiter: Nach seiner Auffassung verhielt sich die Beklagte auch nicht widersprüchlich gemäß § 242 BGB, was - zumindest - eine Umkehr der Beweislast zur Folge gehabt hätte. Es fehlte an der Schaffung eines Vertrauenstatbestandes durch Abzeichnung des Ladescheines, wodurch die (Streithelferin der) Klägerin von weiteren Sicherungs- bzw. Kontrollmaßahmen hinsichtlich der Vollständigkeit der Verladung abgehalten worden wäre. Hierfür fehlte es an einer Kausalität zwischen Unterzeichnung einerseits und Aushändigung der Plombe an den K. zur unkontrollierten Verplombung andererseits.

Abschließend führte das OLG aus, dass im Falle der Befolgung der ständigen Rechtsprechung anderer OLG zur "blinden" Unterzeichnung einer Ladeliste eine andere Entscheidung zu treffen gewesen wäre. Demnach wäre nämlich eine Obhutübernahme im Sinne des Artikel 17 CMR gegeben mit der Folge eines beschränkten Anspruchs gemäß Artikel 23 Abs. 3 CMR (3 kg mal 8,33 SZR); ein qualifiziertes Verschulden der Beklagten wäre nach Auffassung des OLG nicht gegeben gewesen. (Das unbeaufsichtigte V05.2014, erlassen des offenen LKW wäre für ein qualifiziertes Verschulden im konkreten Fall nicht ausreichend gewesen.)

Aufgrund der Abweichung von der OLG-Rechtsprechung hat das OLG Frankfurt die Revision der Klägerin bzw. ihrer Streithelferin zugelassen.

NACHTRAG: Der BGH hat das Urteil zwischenzeitlich unter dem AZ: I ZR 109/13 aufgehoben und an das OLG Frankfurt zurückverwiesen, da das Berufen den Frachtführers, der Fahrer habe die Quittung (lediglich) „blind“ ausgestellt treuwidrig sei.


Das hier besprochene Urteil ist in unserer Urteilsdatenbank mit folgenden Angaben zu finden:

Aktenzeichen:   AZ: 5 U 138/12
Datum:   24.05.2013
Link zur Urteilsdatenbank:   OLG Frankfurt am Main, Urteil v. 24.05.2013, AZ: 5 U 138/12




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