Versicherungsvertrag und Schadenregulierung im Bereich der modernen Kunst Diskrepanz zwischen Materialwert und Wert der Kunstwerke |
Vortrag von Herrn Prof. Dr. Peter Raue, RAUE LLP, Berlin |
Meine verehrten Damen und Herren,
der zehnte Redner auf dieser Tagung hat es schwer. Seiner Rede ist wie eine Schranke, die Sie daran hindert Kunst sehen zu dürfen, unbeschädigte und herrliche Kunst. Aber vor diesen Genuss hat der Veranstalter die Frage positioniert: "Probleme bei der Schadensregulierung von beschädigten Kunstwerken". Wenn ich in der so übermäßig freundlichen Begrüßung als Mitinitiator der MoMA-Ausstellung bezeichnet werde, so ist es wohl zulässig, ja geboten, Ihnen meinen glücklichsten Augenblick dieser sieben Monate währende MoMA-Ausstellung zu benennen: Das war die Sekunde, als eine E-Mail bei mir aufschlug aus New York nach dem Ende der Ausstellung mit dem Satz: "Alle Werke sind wohlbehalten angekommen". Denn jeder Schaden, der einem Bilde zugefügt wird, schmerzt und die Wiederherstellung der Unschuld eines beschädigten Bildes scheint schier unmöglich zu sein. Wenn ich im Folgenden eine Antwort auf die mir gestellte Frage versuche, dann spricht zu Ihnen nicht der kunstbegeisterte Vereinsvorsitzende, Sammler und Museumsbesucher, sondern der Rechtsanwalt, immer wieder beauftragt mit der Suche nach der (fast stets am Ende einvernehmlichen) Lösung hinsichtlich der Regulierung von Schadenersatzansprüchen nach Beschädigung eines Werkes.
Björn Kupfer hat mich gebeten – und mich damit mitten ins Thema gestoßen – ich möge das Schwergewicht meines Referates dem Thema widmen: "Diskrepanz zwischen Materialwert und Wert des Kunstwerkes".
Schnell merkt man, dass das eine mit dem anderen so gut wie gar nichts zu tun hat. Am signifikantesten wird dies vor dem berühmtesten objet trouvé, das je in ein Museum gewandert ist: Das Urinoir von Duchamps. Der millionenhohe Wert dieses (Remake!-)Kunstwerkes steht in einem geradezu absurden Verhältnis zu seinem Materialwert. Und genau diese Diskrepanz macht die Schadenregulierung so schwierig, denn auch Leinwand und Farbe sind kaum etwas wert – der Wert entsteht ausschließlich aus dem Umstand, wer die Farbe auf die Leinwand, das Aquarell auf das Papier gebracht hat. Und da erinnere ich mich an meinen ersten Kunst-Schaden-Fall, den ich im ersten Jahr meiner beruflichen Tätigkeit – 1971 – zu lösen hatte. Ich vertrat den großen Künstler Wolf Vostell, der ein Kunstwerk fertiggestellt hatte, das überwiegend mit Tellern beklebt war. Diese hat er im KaDeWe wahrscheinlich für weniger als 1,00 DM das Stück gekauft, auf dem nach meiner Erinnerung 4 auf 2 m großem Kunstwerk waren mindestens 200 Teller appliziert. Vier dieser Teller sind bei einem Transport beschädigt worden. Vostell reklamierte Totalschaden: Die Arbeit, die zum Zeitpunkt der Beschädigung rund 10 Jahre alt war, hatte natürlich ein leichtes Caché, die Teller waren – 10 Jahre dem Licht ausgesetzt – dunkler als die neuen aus dem KaDeWe! Hätte man – wie es die Versicherung vorgeschlagen hat – die vier Teller im KaDeWe nachgekauft und appliziert, so wäre auf den ersten Blick zu erkennen gewesen: da sind später welche hinzugekommen. Die Idee des Versicherers, den Schaden mit 4,00 DM auszugleichen, hat weder Vostell noch mich überzeugt. Ich hatte es vergessen, aber der längst pensionierte liebenswerte Chef des Versicherers dieser Arbeit hat mich vor wenigen Tagen daran erinnert, dass ich in einem Brief das Angebot 4,00 DM zu zahlen zurückweisend, geschrieben hätte: "Bitte vergessen Sie nicht, Kunst mit Macke ist Kacke". Kein sehr vornehmer Satz, ein Satz, den ich heute nicht mehr schreiben würde, und doch bringt er es auf den Punkt. Denn dafür habe ich Verständnis, wenn Vostell sagt, sein Werk sei gänzlich zerstört. Einen Teller aus dem Jahr, in dem das Werk entstanden ist, gab es natürlich nicht mehr und der neue ist wie ein Riss in einem Bild. Also ist durch die Applizierung neuerer Teller die Arbeit so verändert, dass der Künstler (oder Sammler) sie entweder nicht akzeptiert oder dafür eine hohe Entschädigung erhalten will (und auf diese hatten wir uns dann auch mit dem Versicherer geeinigt).
Und da sind wir natürlich genau beim Thema. Der Materialwert des Tellers hat mit dem Wert des Schadens nichts zu tun. Picasso kam auf die unvergleichlich herrliche Idee, einen Fahrradsattel mit einer Lenkradstange zu verbinden, und hat damit eines der signifikantesten Stierportraits in der Geschichte der Kunst geschaffen. Auch dieses Werk würde heute Millionen bringen, die zusammengefügten Gegenstände hat Picasso wohl auf der Müllhalde gefunden.
Wenn ich eingangs davon gesprochen habe, dass ein restauriertes Bild seine Unschuld verloren hat, so mag ich dies mit einem Vorgang belegen, den ich vor wenigen Jahren zu bearbeiten hatte: Es ging um eines der berühmten Schwammbilder von Yves Klein. Auf dem Transport von Europa nach Amerika hat sich einer der Schwämme gelöst. Dieser Schaden war durchaus restaurierbar, indem man nämlich den Schwamm am unteren Ende mit einem Klebestoff belegt und den Schwamm neu in das Bild einfügt. Der Betrachter des Bildes konnte diese Operation nicht erkennen, es sei denn, er hat sich ganz nah vor das Bild gestellt und von oben auf den Schwamm gesehen: dann konnte er andeutungsweise eine etwas hellere Stelle erkennen, die belegt, dass hier eine Mini-Operation stattgefunden hat. Die Eigentümerin der Arbeit hat eine hohe Entschädigung verlangt, darauf hinweisend, dass man zwar den Schaden nicht beim bloßen Betrachten des Bildes sehen könne, sie aber jedes Mal, wenn sie auf das Bild zugehe, wisse: es ist nicht mehr, was es einmal gewesen ist.
Die Regulierung eines solchen Falles und alles vergleichbare verlangt Sensibilität auf Seiten des Versicherers und Einsichtsfähigkeit auf der Seite des Geschädigten. Und beide Seiten sind gut beraten, wenn sie den Schaden ohne gerichtliche Hilfe versuchen beizubiegen. Denn das oft fehlende Kunstverständnis der Richter macht ein Prozessrisiko unkalkulierbar. Aber das wäre wahrlich ein eigenes Kapitel.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel zur Erhellung der Problematik anfügen: Heinz Berggruen hat in die von Werner Spies kuratierte Ausstellung mit Picasso-Skulpturen – ein unvergessenes Ereignis – eines der vier existierenden Absinth-Gläser von Picasso ausgeliehen (und damit dazu beigetragen, dass erstmals in der Geschichte alle vier Absinth-Gläser von Picasso versammelt waren). Diese kubistisch gestaltete Absinth-Glas-Skulptur hatte einen kleinen Blechlöffel, dessen Wert nicht einmal in Pfennigen auszudrücken ist, der quer auf dem Absinth-Glas lag. Dieser Löffel ist während des Transportes in der Mitte zerbrochen. Natürlich war der Schaden restaurierbar, und genauso natürlich hat man mit der Lupe in der Hand erkennen können, dass es nicht mehr der altgewordene Löffel war, dass er vielmehr aus zwei Teilen zusammengeschweißt war. 5 Mio. $ hat Heinz Berggruen verlangt – und bekommen. Und diese Wertminderung scheint mir absolut gerechtfertigt, denn auf dem Markt würde jeder solide Kunsthändler und Auktionator auf diese Beschädigung hinweisen und ein solcher Hinweis – die Erfahrung lehrt es – führt jedenfalls bei Kunstwerken des 20. Jahrhunderts zu erheblichen Wertminderungen.
Es wäre schön und leichter für mich, wenn ich aus diesen hier skizzierten Fällen – die ich um eine beliebige Zahl verlängern könnte – eine Systematik finden, Ihnen ein "Hand-out" überlassen könnte, aus dem ersichtlich ist, wie Schadensfälle reguliert, wie Schäden berechnet werden können. Das ist und bleibt Einzelfallentscheidung.
Noch dramatischer wird die hier skizzierte Fragestellung dann, wenn der Eigentümer eines beschädigten Kunstwerkes erklärt, das Bild habe einen Totalschaden und er verlange den Wert, den das Werk, käme es heute auf den Markt, erzielen würde.
Ich darf auch hier konkret werden: Alf Lechner, einer der großen Minimalisten auf dem Felde der Eisenskulpturen, hatte auf seinem Grundstück eine Arbeit liegen, vielleicht 3 auf 8 m groß und tonnenschwer: das Eisen – eine Bodenskulptur – hat sich an einer Stelle ganz leicht nach oben gebogen. Eine minimale, aber gerade deshalb so faszinierende Veränderung der Stahlplatte. Ein Kranführer sollte diese dislozieren, hat die Skulptur an Eisenketten befestigt und in die Höhe gehievt, – das hat er aber nicht gut genug gemacht, das Eisen fiel zu Boden, so heftig, dass die kleine Erhebung sich um wenige Zentimeter weiter nach oben gebogen hatte als dies ursprünglich der Fall war. Es ging um Zentimeter, um die sich die Arbeit verändert hatte. Alf Lechner – er war Eigentümer dieser Arbeit – hat erklärt, dass er vor einem Totalschaden stehe. Die leichte Veränderung der Biegung dieser Eisenplatte macht etwas vollkommen anderes und banales, ja geradezu lächerliches aus dieser Arbeit. Sie zurückzuführen in den ursprünglichen Zustand ist technisch (darüber bestand kein Zweifel) ausgeschlossen. Also bestand er auf Regulierung bei Anerkennung als Totalschaden. Diesen Weg wollte der Versicherer nicht mitgehen (immerhin lag die Forderung nach meiner Erinnerung bei 500.000,00 DM). Das Landgericht in München hatte einen verständigen Richter, der dem Vortrag Lechners – nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – gefolgt ist. Sein anfängliches Verdikt, in reinem bayrisch vorgetragen, "Es ist doch eh wurscht, ob des a bisserl höher oder niedriger ist, weil des is allerweil a Eisen was hinten hochgeht" ist der Einsicht in den Totalschaden gewichen.
Möglicherweise wird man – dazu neige ich – die Frage "Totalschaden oder restaurierbar?" unterschiedlich beurteilen müssen, je nachdem, ob der Künstler des Werkes noch lebt oder schon tot ist. Ein lebender Künstler kann eher ein beschädigtes Werk wiederherstellen, ihm die Aura der Authentizität zurückgeben als dieses bei dem Werk eines toten Künstlers möglich wäre, denn da wäre die Wiederherstellung eines Werkes entweder unzulässiges Plagiat oder Spuren hinterlassende Restaurierung. Aber auch hier ist Vorsicht geboten: Wenn ein Künstler ein (total) beschädigtes Werk neu schafft, dann schafft er dies in einer anderen Zeit und damit auch in einem anderen Lebens- und Schaffenskontext. Ob ein Künstler, der eine Arbeit, die er erstmals vor 20 Jahren gemacht hat, erneut realisiert, damit ein wert-identisches Werk schaffen kann, bleibt eine Frage, deren Antwort ich offenlasse.
Von besonderer Komplexität ist die Schadensregulierung bei Arbeiten, die als Collage oder als bewegliche Skulpturen entstanden sind. Ob es sich dabei um Schwitters‘ Collagen oder um die komplizierten herrlich-beweglichen, tickenden und tuckenden Konstruktionen eines Tinguely; ob es sich um das Absinth-Glas von Picasso oder das Ihnen vorgestellte Werk von Vostell handelt: dass wir es hier mit einer ganz eigenen Kategorie zu tun haben, ergibt sich auch aus den Umstand, dass mir im Laufe meines Lebens immer wieder Versicherungsbedingungen vorgelegt wurden, bei denen Schäden an Collagen, an nicht fest angebrachten Teilen einer Collage vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind. Das reimt sich nicht: wenn ein Unternehmen eine Arbeit von Soto transportiert, dann kann es ja nicht sein, dass zwar die Arbeit selbst vom Versicherungsschutz umfasst ist, die kleinen Hölzchen oder Stäbe, die an der oder in der Arbeit hängen, aber vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind. Möglicherweise gibt es gute Gründe, bei derartigen Werken die Versicherungspolice zu erhöhen wegen eines offensichtlich auch erhöhten Risikos. Ein Ausschluss der Haftung dagegen durch Geschäftsbedingungen scheint mir höchst problematisch zu sein.
Ein weiteres offensichtlich kaum endgültig zu klärendes Problem stellt sich bei der Frage, welchen Wert man bei der Entschädigung eines beschädigten Kunstwerkes zugrunde legen soll. Ich vertrete dazu stets den Standpunkt, dass der Wert, den der Versicherungsnehmer angegeben und der Versicherer akzeptiert hat, grundsätzlich als Wert des Kunstwerkes zugrunde zu legen ist. Weder sollte dem Versicherungsnehmer das Tor geöffnet werden, um zu erklären: der Wert sei ja – jetzt, nachdem die Beschädigung eingetreten ist, müsse man darauf hinweisen – höher als in der Versicherungspolice angegeben (was ja zu den bekannten Problemen der Unterversicherung führen würde,) noch sollte dem Versicherer der Einwand in die Hand gegeben werden, der Wert des Werkes entspreche gar nicht der versicherten Summe. Denn auch dieser Einwand scheint mir kein "fair play" zu sein: der Versicherer akzeptiert und kassiert die Versicherungsprämie auf den vom Versicherer angegeben Wert, und wenn es an die Entschädigung geht, will er diesen Wert nicht mittragen. Mit einem solchen Einwand sollte kein Versicherer gehört werden.
Andererseits: Wer eine Giacometti-Skulptur mit 20 Mio. € versichert, kann beim eingetretenen Schaden nicht erklären: zwischenzeitlich ist eine Parallelarbeit dieses Künstlers für 60 Mio. € zugeschlagen worden, deshalb muss auch bei der Schadensberechnung von diesem Wert ausgegangen werden.
Aber nichts ist eben so wie es scheint und keine Regel führt zur Problemlösung in allen Fällen: Wie sollen Bilder bewertet werden, die den Markt nie gesehen und die einen Marktwert nicht hatten? Da malt ein Künstler ein Leben lang, verkauft so gut wie nichts und plötzlich verbrennt sein Lager oder wird einem Wasserschaden ausgesetzt. Ein Lebenswerk ist zerstört. Kann der Versicherer kommen und erklären: "Da du nie etwas verkauft hast, sind deine Arbeiten nichts wert?". Kann der Künstler erklären, er würde nie ein Bild unter 10.000,00 € verkaufen und deshalb sei dieser Wert für jede zerstörte Arbeit anzusetzen? Frage ohne Antwort. Vielleicht muss man auch hier auf die vereinbarte Summe des Lager-Wertes abstellen und die zur Basis der Berechnung machen.
Und ein weiteres Problem bäumt sich auf, wenn sich das versicherte Werk, beschädigt auf einem Transport, am Ende als Fälschung herausstellt. Wenn also – um an den uns alle bewegenden Jägers-(Beltracchi)-Skandal zu erinnern – ein Campendonk auf Reise geht, der mit 4 Mio. € versichert ist, beschädigt wird, der Schaden vom Versicherer reguliert wurde und sich später herausstellt, dass nicht Campendonk, sondern Herr Beltracchi dieses Bild gemalt hat? Der Eigentümer wird erklären, er habe für dieses Bild 4 Mio. € gezahlt und deshalb sei es für ihn auch 4 Mio. € wert und deshalb müsse anhand dieses Wertes auch die Entschädigung berechnet werden. Der Versicherer wird einwenden: Wenn das Werk erneut auf den Märkt käme, würde es nicht 10 % des ursprünglichen Preises bringen.
Auch der umgekehrte Fall kann uns beschäftigen: Ich war selbst dabei, als jemand Andy Warhol eine Arbeit vorgelegt hat mit der Bitte, sie für echt zu erklären. Andy Wahrhol schaute nur kurz auf dieses Bild und erklärte mit einer Zweifel ausschließenden Stimme: "That’s not mine but I don’t care", nahm einen Stift und signierte das Werk. Hat der Besitzer dieser Arbeit nun – Jahre nach Warhols Tod – einen Millionenwert in der Hand? Versichert er diese Arbeit zum Millionenwert, stellt sich bei dem Streit um die Höhe des Schadenersatzes nach Beschädigung heraus, welche Geschichte hinter diesem Bild liegt: Kann der Versicherer erklären, ein Bild, das nach den Worten Warhols nicht von ihm stamme, wird nicht deshalb zu einem Bild von Warhol, weil er es signiert hat?
Der jüngste Fall in diesem Problemfeld ist uns allen in Erinnerung: Christie’s versteigert das "Parisbar" Bild von Kippenberger für 2,5 Mio. €. Christie’s hat diese Arbeit im Versteigerungskatalog wie folgt angeboten: "Kippenberger, Parisbar, Öl auf Leinwand". In dieser Angabe stecken zwei Fehler, ein kleiner und ein größerer. Der kleine: das Bild ist nicht in Öl, sondern in Acryl gemalt. Der große: es stammt keineswegs von Kippenberger, sondern von Götz Valien, der das Werk für 1.000,00 DM im Auftrag Kippenbergers erstellt hat. Eine Methode, die die Kippenberger-Fangemeinde kennt und akzeptiert hat. Dessen "Lieber Maler male mir ein Bild"-Konzept inkarniert die Philosophie dieses Künstlers. Würde dieses Bild beschädigt: ist dann wirklich der Zuschlagspreis bei Christie’s zugrunde zu legen oder kann der Versicherer – ich denke, er kann nicht – sich auf den Standpunkt stellen, dass dieser Liebhaberpreis dem normalen Marktwert des Bildes nicht entspricht? Denn darüber sind wir uns einig: würde Valien dieses Bild noch einmal identisch so erstellen wie das Ausgangsbild – und das kann er rein handwerklich zweifelsohne – dann wäre dieses zweite Bild statt 2,5 Mio. € vielleicht 2.500,00 € wert.
Und betreten wir doch sogleich noch ein neues Problemfeld, das der "bestellten Kunst". Konkret: Sol LeWitt erstellt und verkauft eine Skizze (dafür zahlt der Erwerber erhebliches Geld). Nach dieser Skizze wird das Werk "in situ" an die Wand eines Hauses gemalt. Ähnlich verfährt Jenny Holzer mit ihren Schriftarbeiten, die sie naturgemäß nicht selbst herstellt, sondern von Fachleuten herstellen lässt. Wird diese an meiner Hauswand realisierte Sol LeWitt-Arbeit (wird eine Schriftzeile von Jenny Holzer) beschädigt: kann der Geschädigte mehr als den Materialwert verlangen? Wird der Versicherer nicht einwenden wollen (und vielleicht sogar können), dass der Eigentümer das Werk ja erneut herstellen lassen kann, denn er habe ja dazu die Erlaubnis. Oder wird der Geschädigte einwenden können: die Erlaubnis, die Vorgaben von Sol LeWitt umzusetzen, hat dieser nur für eine einmalige, nicht wiederholbare Herstellung des Werkes, nur für einen ganz bestimmten Ort gegeben. Denn auch darüber werden wir uns einig sein: niemand wäre berechtigt, diese durch Beschreibung vorgegebene Arbeit des Künstlers, die der Künstler niemals selbst ausführt, an beliebigen Orten beliebig häufig anzubringen und als Originalarbeit von Sol LeWitt auszugeben. Dagegen ist die Erstrealisierung nach dem Verständnis aller Kunstsachverständigen eine Originalarbeit.
All diese Fälle, die viele von Ihnen aus eigener Erfahrung kennen, belegen nur eins: eine "Gebrauchsanweisung" für die Berechnung von Schadenersatzansprüchen bei beschädigten Kunstwerken gibt es nicht. Jeder Fall ist so einzigartig, wie es jedes Kunstwerk, wie es jeder Mensch, wie es alles Individuelle ist.
Dass die Fälle, die ich Ihnen vor Augen führe, keineswegs erfundene sind, wissen Sie, mit großer Erfahrung auf diesem Gebiet, selbst. Dass ich Fragen formuliere, ohne griffige Lösungen anzubieten, liegt in der Natur der Sache.
Lassen Sie mich – etwas am Rande des Themas – abschließend und kurz darüber nachdenken, wie ich denjenigen berate, der mich befragt, welchen Vertrag er abschließen soll, wenn er ein Bild für eine Ausstellung ausleihen soll. Dringend empfehle ich ihm, verschiedene Versicherungsangebote einzuholen, das Werk stets von Nagel zu Nagel als all risk-Versicherung zu versichern und dafür Sorge zu tragen, dass das Werk nur bei einem Versicherer versichert ist, also nicht Transportversicherer und Ausstellungsversicherer auseinanderfallen. Wenn möglich, soll er die Versicherung einschalten, bei der er seine Werke dauerversichert hat. Die schwierigsten Probleme bei der Lösung von Schadenersatzfällen treten auf, wenn der Transportversicherer erklärt, nicht beim Transport, sondern im Museum sei der Schaden eingetreten und das Museum genau das Gegenteil behauptet. Des weiteren empfehle ich insbesondere dann, wenn der Leihgeber es mit einer ausländischen Versicherung zu tun hat, die Versicherungsbedingungen genau zu studieren und nach Möglichkeit Verträge nicht dem ausländischen Recht zu unterstellen. Ich bearbeite zurzeit einen Fall um einen beschädigten Picasso, der in England auf den Weg gebracht worden ist, mit englischen Versicherungsbedingungen. Dort steht ernstlich drin: "Sollte ein Schaden an dem Bild eintreten, so ist in jedem Fall der gesamte Wert des Bildes zu ersetzen, ohne dass eine Rückgabe des Bildes in Betracht kommt". Der Schaden – er ist relativ gering – ist eingetreten. Der Eigentümer erklärt, er wolle das gesamte Geld haben, er wolle den Wert des Bildes (rund 5 Mio. €) ersetzt haben und das zwischenzeitlich fabelhaft restaurierte Bild behalten. Nach deutschem Recht dürfte eine solche Formulierung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam sein, die Engländer scheinen dies anders zu sehen.
Was lehrt und lernt uns diese tour d’horizon, mit der ich Sie vom Betrachten der Kunst abhalte? Versicherungsschäden an Kunstwerken sind nur dann einvernehmlich regulierbar, wenn auf beiden Seiten Sensibilität und Augenmaß vorhanden sind. Wachsamkeit bei Abschluss der Verträge, Klarheit hinsichtlich der Verbindlichkeit von Versicherungswerten erleichtern den Weg zur Lösung. Und Ihnen danke ich fürs Zuhören.
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