Was ist Kunst?

Vortrag von Dr. Christian Saehrendt






Der Vortrag besteht aus Passagen aus dem Buch "Das kann ich auch! Gebrauchsanweisung für moderne Kunst", Köln 2009.

Darin werden u. a. folgende Fragen und Gedanken behandelt:

Was fasziniert eigentlich an einem Kunstwerk?
Moderne Kunst: Das kann ich auch!
Wodurch wird etwas überhaupt zu "Kunst"?
"Moderne Künstler sind Pfuscher, die Alten Meister konnten noch was!"
Wer sagt mir, was gute Kunst ist?
Wenn Kunstwerke sehr teuer sind, ist das vielleicht gute Kunst?

Aus den betrachteten Fragen dieses Vortrages ergeben sich Detailprobleme, die für die Kunstversicherer im Alltag eine Rolle spielen.



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Wie wurde Kunst in den vergangenen Jahrhunderten definiert, und wie wird dies in der zeitgenössischen Kunst getan?

In früheren Zeiten wurde Kunst von Autoritäten definiert, deren Entscheidung nicht hinterfragt wurde. So legte z. B. im Feudalismus der Fürst fest, was Kunst ist und was nicht – u. a. auch durch die von ihm zusammengesetzten und kontrollierten Kunstakademien.

Später hatten bürgerliche Kreise versucht, die Definitionsmacht für Kunst zu übernehmen. Bürgerliche Professoren drängten verstärkt in die Kunstakademien.

In der entstehenden Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts versuchten sog. "Kritikerpäpste" gemeinsam mit Professoren oder Gegenprofessoren und bestimmten Künstlern die Definitionsmacht zu erobern. Der französische Maler Gustave Courbet ist hierfür ein Beispiel. Er schaffte es damals, mit der Medienwelt in seinem Sinne zusammenzuarbeiten.

Diese hierarchischen Strukturen bzw. einseitige Einflussnahme gibt es heutzutage in Bezug auf die Kunst nicht mehr. Es gibt keinen aktuellen "Kunstpapst", der als zentrale "Jury" über gute und schlechte Kunst entscheidet. Eine solche Person würde heute wohl auch nicht mehr ernst genommen werden.

Die Gesellschaft ist heute am Endpunkt eines langen Prozesses der Demokratisierung der Kunst angelangt, aber auch derer Individualisierung.

Heute ist es eher so, dass die Zahl selbsternannter oder tatsächlicher Kunstexperten extrem groß geworden ist. In unseren Zeiten ist es sehr verbreitet, dass Besucher moderner Kunstausstellungen Exponate populistisch und abfällig beurteilen, sinngemäß nach dem Motto: "Das kann ich (oder meine kleine Tochter) auch!". Meist fehlt hier jegliche Bereitschaft, sich mit der Kunst ernsthaft auseinanderzusetzen.

Eine weitere Definitionsebene für Kunst war früher die Kunstfertigkeit des Künstlers. Dessen gute handwerkliche Fähigkeiten waren hier das wesentliche Kriterium. Dies unterschied den Kunstgegenstand vom Alltagsgegenstand.

In der Renaissance kam es zu einer neuen Betrachtungsweise der Kunst. Die reine Natur-Nachahmung mittels großartiger handwerklicher Fähigkeiten war zuvor zur Perfektion getrieben worden. Nun begannen geistige Aspekte in die Kunst einzufließen. Die Fantasie spielte zunehmend eine Rolle. Der wahre Künstler bildete die Welt nicht nur ab, sondern sollte sie neu erfinden. Er zeigte dem Betrachter die Welt, so wie sie der Künstler sah. Michelangelo und Da Vinci waren damals Idealtypen dieses Künstlertyps, die sowohl die geistige und fantasievolle Kompetenz hatten als auch die Materialbeherrschung und handwerklichen Fähigkeiten.

Ein weiterer Aspekt, nach dem man früher Kunst erkennen konnte, ist die materielle Ebene. Es gab einen Kanon, der über edle bzw. kunstwürdige Materialien entschied. Materialen mit einem hohen Eigenwert und/oder solche, die schwer zu beschaffen sind, wurden wie selbstverständlich bevorzugt: Gold, edle Hölzer, Edelmetalle, seltene Farben usw. Als Kunstwerk galten auch solche Werke, die nicht alltägliche Materialien enthielten – z. B. besonders wertvolle und exotische Farben oder Stoffe aus fernen Ländern.

Kunstwerke waren früher stets in ein religiöses Ritual eingebunden. So galten für die meisten Menschen selten gezeigte Darstellungen, z. B. nur an hohen Feiertagen gezeigte Altarbilder, fast automatisch als wertvolle Kunstwerke.


Zusammenfassend sind im Folgenden noch einmal die einstmals wichtigsten Merkmale für ein Kunstwerk aufgelistet:

Hierarchische Struktur im Kunstbetrieb
Kunstfertigkeit des Künstlers
Edle bzw. wertvolle Materialien
Religiöser Zusammenhang

Diese Kriterien spielten bis zum Beginn der Moderne eine vorherrschende Rolle für die Definition von Kunst. Für viele Menschen sind diese Aspekte aber auch heute noch entscheidende Punkte, um Kunst zu beurteilen.



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Die Moderne – Zeitgenössische Kunst

Die moderne Kunst besteht im Kern darin, die zuvor "alten" Definitionsmerkmale von Kunst zu bekämpfen und abzustreifen.

Die modernen Künstler des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts versuchten, dem Betrachter Kunst unter Ablehnung dieser einstigen Kriterien begreifbar zu machen. Es begann ein ständiger Kampf gegen die alten Regeln. Neue Regeln für die Kunst wurden aufgestellt, bis diese wieder von den Avantgardisten der nächsten Generation abgeschafft wurden.

Solange ein modernes Kunstwerk noch als solches leicht erkennbar war, also z. B. auf Leinwand gemalt war und eine Rahmen hatte, wurde es von vielen Kunstinteressierten noch mehr oder weniger problemlos als solches akzeptiert. Die dann aufkommende zunehmend abstrakte und/oder provokante Kunst, die z. T. bewusst jeglichen Bezug zur klassischen Kunst ablehnt, hatte es da schon deutlich schwerer. Häufig bewirkt sie beim Betrachter eine Enttäuschung oder gar eine Frustration, da dessen Erwartungshaltung meist auf "klassische" Kunst gepolt ist. Der Betrachter wollte eigentlich etwas "schönes" oder etwas "harmonisches" sehen und die modernen Kunstwerke werden dieser (konservativen) Erwartungshaltung oft nicht gerecht.


Beispiele für zeitgenössische Kunstwerke

Ein gutes Beispiel für ein modernes, für viele Menschen "schwer vermittelbares" Kunstwerk ist die Skulptur "Vacuum Cleaner Hoover Convertibel" von Jeff Koons, die aus einem handelsüblichen Staubsauger in einer Glasvitrine besteht.

Ein Kunstwerk von Thomas Rentmeister, der Zuckerberg, zeigt einen Einkaufswagen, der in einem Haufen weißen Zuckers steckt.

Solche Skulpturen oder Installationen sind Kunstwerke, die für die Bewachung, Versicherung und den Transport ein besonderes Problem darstellen – aufgrund ihrer Größe, ihre Fragilität oder Zusammensetzung aus verschiedenen Komponenten und der unterschiedlichen Empfindlichkeiten der Materialien. So muss der Zuckerhaufen u. a. gegen Verschmutzung, Feuchtigkeit, Luftzug und mechanische Beschädigung geschützt und versichert werden, die einzelnen Komponenten einzeln transportiert und vom Künstler oder dessen Beauftragten jedes Mal wieder neu aufgebaut werden. Bei jeder Ausstellung stellt der Zuckerberg ein einmaliges Werk da, weil er nach jedem Transport nicht exakt in der gleichen Form aufgeschüttet werden kann. Hier kann es u. U. schnell zu Schadenersatzforderungen kommen.

Ein Beispiel für ein modernes Kunstwerk, das eher nicht aus "edlem" Material besteht, sind die Kotblöcke von Santiago Serra. Es handelt sich dabei um mehrere metergroße Quader, die aus gepresstem und getrocknetem Kot bestehen. Dies ist auch für viele "aufgeklärte" Kunstfreunde schwer als Kunst zu begreifen.

Möglicherweise will der Künstler mit den Kotblöcken nicht (nur) provozieren, sondern auf Missstände in anderen Ländern aufmerksam machen. So müssen in Indien Angehörige bestimmter niedriger Kasten Fäkalien aus Kloaken abschöpfen und einer Trocknung zuführen. Hier kann man kritisieren, dass sich ein Künstler mit den erbärmlichen Arbeitsbedingungen armer Menschen profiliert, denn eine Verbesserung derer Lebensbedingungen wird dadurch kaum erreicht.

Kunst ist ein Geschäft, das bisweilen auch ethisch bedenklich praktiziert wird. So gibt es bekanntlich reiche Sammler (darunter auch solche, die auf kriminellem Wege reich geworden sind), die ohne Kunstverstand und -interesse für viel Geld Kunstwerke aufkaufen und sie aus Profilierungssucht und/oder Imagegründen ihren Privatsammlungen zufügen.

Viele Künstler wollen mit ihrer Kunst gutes Geld verdienen, aber seit den 60er und 70er Jahren gibt es auch Künstler, die sich der Vereinnahmung der Kunst durch den Markt widersetzen. Dies wird durch strategische Gegenaktionen getan, bei denen Kunstwerke hergestellt werde, die (so wird es zumindest geglaubt) absolut unverkäuflich sind. In den 60er Jahren war dies die legendäre "Künstlerscheiße", die ein italienischer Künstler produziert hat. Es handelte sich um in Dosen abgepackte Fäkalien des Künstlers. Der Künstler war sich damals sicher, dass diese Dosen nicht verkäuflich sind. Inzwischen haben sie einen Marktwert von 50.000 Euro. Die Strategie hat sich als Fehlschlag erwiesen.

Ein weiterer Versuch, der Vermarktung zu entgehen, waren "flüchtige" Vorführungen der Künstler selbst, bzw. kleine Performances. Diese, so dachte man in den 80er Jahren, wurden einmalig gezeigt und konnten so nicht verkauft werden. Auch diese Strategie ging nicht auf: Die Performances wurden gefilmt und die Filme werden für teures Geld gehandelt und sind heute Sammlerstücke.

Bisweilen wurden riesige raumfüllende Großinstallationen geschaffen, die aufgrund ihrer Größe nicht marktfähig sein sollten. Aber auch dadurch konnte die Vermarktung nicht verhindert werden, Sammler kauften die Installationen dennoch ganz oder in Teilen auf.



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Im Folgenden werden einige Gedanken genannt, wie heutzutage Kunst nach Meinung des Vortragenden definiert wird. Die Aussagen sind bewusst vereinfacht und provokant formuliert:

In der Moderne bzw. unserer Gegenwart kann Kunst als ein Ergebnis einer sozialen Übereinkunft definiert werden. Kunst ist das, was der Gesellschaft bzw. dem Publikum im Kunstkontext als Kunst gezeigt wird. Ein Gegenstand, der im Museum ist, ist per sé Kunst.

Der Staubsauger von Jeff Koons ist Kunst, weil er in einer Vitrine im Museum steht. Weil ein Museumsdirektor entschieden hat, diesen auszustellen. Weil ein Sammler bereit ist, dafür Geld auszugeben. Weil ein Kritiker in einer Fachzeitschrift darüber einen Aufsatz verfasst hat.

Im modernen Kunstbetrieb sind es bestimmte "Kunstexperten", ähnlich Spielern an einem Tisch im Casino, die sich in kleinen informellen und wechselnden Zirkeln darüber einigen, welches Objekt von welchen Künstler jetzt zu Kunst erklärt wird – und dadurch auch einen höheren Marktwerk bekommt. Diese Auswahl ist bisweilen völlig beliebig.

Heutzutage können bestimmte "Kunst-Insider" mit entsprechendem Einfluss in der Kunstszene praktisch jeden beliebigen Gegenstand zu einem Kunstwerk erklären und jeden Hobbymaler zum angesagten Künstler erheben.

Wir leben in einer Zeit, in der alles und jedes Kunst werden kann. Dies kann als eine Entwertung des Kunstbegriffes angesehen werden. Alltagsgegenstände werden zu Kunst, die aufgrund solcher bisweilen dubiosen "Experten-Entscheidungen" im Museum bewundert werden (sollen).

Dennoch muss die zeitgenössische Kunst auch immer als Dokument unserer Zeit betrachtet werden. Es ist die Zeit, in der wir leben. In der Kunst teilweise auf diese Art und Weise definiert wird. Das ist nicht besser oder schlechter als in vergangenen Jahrhunderten, in denen der Fürst bestimmte, was Kunst ist.


Abschließende Gedanken zur individuellen Beurteilung von Kunst

Warum spricht uns ein Kunstwerk an? Welche Gründe spielen dabei eine Rolle? Folgende Begriffe können dazu genannt werden:

Die Schönheit des Kunstwerkes
Die Kunstfertigkeit, mit das Kunstwerk geschaffen wurde
Die Erinnerung an erlebte Dinge des Betrachters, die durch das Kunstwerk ausgelöst werden
Das Rätselhafte oder Magische eines Kunstwerkes
Eine religiöse Komponente
Eine bestimmte Stimmung, die das Kunstwerk schafft

Wenn eines oder mehrere dieser Kriterien erfüllt sind, kann man durchaus guten Gewissens von einem Kunstwerk sprechen – unabhängig von der Reputation des Künstlers oder der Materialbeschaffenheit des Objektes.


Schlusswort

Es ist ratsam, Kunst zunächst einmal offen anzunehmen als Diskussionsgrundlage und dann für sich entscheiden, ob und inwieweit sie einen persönlich anspricht.





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