4.2 Physikalische Grundlagen


4.2.2 Durchführung der Neigungsprüfung

Um die Neigungsprüfung durchzuführen, benötigt man eine hydraulisch kippbare Ladefläche oder eine vergleichbare steife Plattform und einen Kran, mit dem diese Plattform einseitig angehoben werden kann, bis der gewünschte Prüfwinkel erreicht ist. Soll die Sicherung von Ladung auf einer Palette geprüft werden, so kann diese die zu neigende Ebene darstellen. Wichtig ist, dass die verwendete Testfläche den gleichen Reibbeiwert zur Ladungsunterseite aufweist, wie er im späteren Transportbetrieb zu erwarten ist.

In allen Fällen ist vorher zu entscheiden, welche Belastungssituation aus Straßenverkehr, Seeverkehr oder Schienenverkehr durch die Neigungsprüfung dargestellt werden soll. Zu unterscheiden sind dabei Prüfung auf Rutschsicherheit und Prüfung auf Kippsicherheit.

Um nach dieser Festlegung den oder die zugehörigen Prüfwinkel festzulegen, benötigt man für die Prüfung auf Rutschsicherheit den Reibbeiwert μ und für die Prüfung auf Kippsicherheit das Verhältnis von Standhebel zu Kipphebel b/d. Beide Werte sollte man vor der eigentlichen Neigungsprüfung ebenfalls durch Messung feststellen. Dazu wird die gleiche Ausrüstung wie für die eigentliche Neigungsprüfung benutzt. Der Unterschied besteht nur darin, dass zur Feststellung des Reibbeiwerts oder des Verhältnisses b/d die ungesicherte Ladung auf die zu neigende Ebene gestellt und die Neigung langsam erhöht wird, bis die Ladung zu rutschen bzw. zu kippen beginnt. Selbstverständlich muss dabei für eine geeignete Schutzvorrichtung gesorgt werden, welche verhindert, dass die Ladungseinheit unkontrolliert wegrutschen oder umkippen kann und dabei beschädigt wird.


Abbildung - LSHB

Abbildung 4.8: Bestimmung des Haftreibbeiwerts mit Rutschtest [MariTerm AB]


Abbildung - LSHB

Abbildung 4.9: Bestimmung des Haftreibbeiwerts mit Rutschtest [MariTerm AB]

Bei dieser vorbereitenden Messung tritt regelmäßig das Problem auf, dass ungesicherte Ladungseinheiten bei zunehmender Neigung der Unterlage entweder zuerst rutschen oder zuerst kippen. Im ersten Fall ist der Winkel des Rutschbeginns zu registrieren. Falls auch die Kippsicherheit geprüft werden soll, muss anschließend die Ladungseinheit in Bodennähe fixiert werden, so dass mit erneut zunehmender Neigung auch der Winkel des Ankippens registriert werden kann. Im zweiten Fall – die Ladung kippt zuerst – wird der Winkel des Ankippens registriert. Danach muss der größere Winkel des Rutschbeginns gefunden werden, indem eine vergleichbare, aber weniger kippgefährdete Ladungseinheit geneigt wird, oder zwei der untersuchten Ladungseinheiten mit horizontaler Umreifung in Kipprichtung hintereinander gestellt geneigt werden, bis sie zu rutschen beginnen.

Hat man die Ergebnisse ϕR = Winkel des Rutschbeginns und ϕK = Winkel des Kippbeginns gefunden, so erhält man die Parameter für die eigentliche Neigungsprüfung.

μ = 0,925 · tanϕR und b / d = tan ϕK

Mit diesen beiden Parametern als Eingangswert entnimmt man der Tabelle im Anhang zu diesem Kapitel die anzuwenden Prüfwinkel. Der größere der beiden Prüfwinkel ist der, welchem die zu untersuchende Sicherungsanordnung letztlich standhalten muss.

Diese vorbereitende Prozedur soll anhand zweier Beispiele demonstriert werden.

Beispiel 1: 

Die Schrumpffoliensicherung eines Stahlfasses von 0,88 m Höhe und 0,575 m Durchmesser auf einer Palette soll auf Versandtauglichkeit für den Straßenverkehr mit der Belastungssituation cx = 0,8 und cZ = 1,0 geprüft werden. Die Sicherung soll gegen Rutschen und gegen Kippen des Fasses wirken. Bei den vorbereitenden Neigungstests beginnt das ungesicherte Fass im Mittel bei einer Neigung von 24° zu rutschen. Daraus erhält man den Reibbeiwert:

μ = 0,925 · tan24° = 0,41

Dann wird das Fass durch Aufnageln eines kurzen Brettes auf die Palette am Rutschen gehindert und die Neigungen mehrmals bis zum Ankippen des Fasses geführt. Als Mittelwert werden 31° festgestellt. Daraus erhält man das Verhältnis b/d:

b/d = tan31° = 0,60

Für die gewählte Belastungssituation mit cx = 0,8 und cZ = 1,0 erhält man aus obiger Tabelle mit $\gamma$ = 0,41 den Prüfwinkel ϕP = 43,4° und mit $\gamma$ = 0,60 den Prüfwinkel ϕP = 40,8°. Die Foliensicherung muss dem größeren der beiden Prüfwinkel standhalten.





Beispiel 2: 

Die gleiche Sicherungsanordnung wie im vorangegangenen Beispiel soll für den kombinierten Verkehr auf der Eisenbahn geprüft werden. Die Tabelle im Anhang zu diesem Kapitel liefert folgende Prüfwinkel:

  $\gamma$ = 0,41  

  $\gamma$ = 0,60  

Rutschen in Längsrichtung

55,5°

Kippen in Längsrichtung

31,0°

Rutschen in Querrichtung

33,5°

Kippen in Querrichtung

26,0°

Die Foliensicherung muss dem Prüfwinkel von 55,5° standhalten.





Die eigentliche Neigungsprüfung wird mit der gesicherten Ladung durchgeführt. Neben der zu prüfenden Sicherung sollten zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, mit denen im Falle des Versagens der Sicherung ein unkontrolliertes Abstürzen der Ladung verhindert wird. Das können zusätzliche Sicherungselemente sein, die jedoch so viel Lose aufweisen müssen, dass sie die Prüfung der eigentlichen Sicherungsmaßnahmen nicht verfälschen.

Das Erreichen des Prüfwinkels kann mit unterschiedlichen, handelsüblichen Geräten zur Neigungsmessung kontrolliert werden. Die Neigungsprüfung gilt im Sinne der Norm als bestanden, wenn die Ladung unter dem Prüfwinkel „ihre Position beibehält und sich nur eingeschränkt bewegt“.

Die Norm DIN EN 12195-1:2011 enthält keine Hinweise darauf, in welchem Zeitraum der Prüfwinkel erreicht werden muss. Vielmehr wird ein „schrittweises“ Steigern der Neigung empfohlen. Es ist verständlich, dass man in anfänglicher Ungewissheit über die Tauglichkeit der gewählten Sicherungsanordnung dazu neigen wird, den Prüfwinkel langsam zu erreichen, um das Verhalten der Ladung zu beobachten und gegebenenfalls den Vorgang vorzeitig abbrechen zu können. Man sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass bei einer Vollbremsung auf der Straße die maximale Verzögerung in der Größenordnung von 0,8 g durchaus in einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde erreicht werden kann. Ähnliches kann auch in Längsrichtung beim Schienentransport erwartet werden.

Ein derartig schneller Anstieg der Trägheitskraft führt vor allem bei Sicherungen mit dem Dehnungsverhalten von Direktzurrungen zu einem anfänglichen Sicherungsdefizit, weil die Ladung infolge ihrer eigenen Trägheit die Zurrmittel nicht schnell genug spannen kann. Die Ladung wird folglich auf dem Fahrzeug beschleunigt, rutscht oder verformt sich und kann anschließend nur durch „dynamisch überhöhte“ Zurrkräfte gehalten werden. Das sind Zurrkräfte, die größer sind, als es für ein rein statisches Gleichgewicht erforderlich wäre. Dieser grundsätzliche Vorgang wird in Kapitel 2.3.4 ausführlich dargestellt.

In dieser Hinsicht ist die Neigungsprüfung der dynamischen Fahrprüfung nicht gleichwertig, obwohl sie exakt den Belastungen entspricht, die auch den Rechenverfahren der Norm zugrunde liegen. Das sollte bei der Anwendung der Neigungsprüfung bedacht werden.


Abbildung - LSHB

Abbildung 4.10: Neigungstest für die Sicherung von Bigbags quer [MariTerm AB]


Abbildung - LSHB

Abbildung 4.11: Neigungstest für die Sicherung von Drahtrollen quer [MariTerm AB]


Abbildung - LSHB

Abbildung 4.12: Neigungstest für die Sicherung von Drahtrollen längs [MariTerm AB]