EUGH, Urteil vom 19.12.2013, AZ : C - 452/12 | |||
Gericht: | EUGH | ||
Aktenzeichen: | C - 452/12 | ||
Datum: | 19.12.2013 | ||
Land : | EUGH | ||
Einordnung in die Urteilsdatenbank | |||
Normenregister: | CMR-> Art.31 Abs 2 | ||
VO (EG)-> 44/2001- Art. 27, 33, 71 | |||
Haftungskategorie: | Straße-International->Verlust | ||
Stichworte: | Gerichtsstand, günstigen Gerichtsstand, negativen Feststellungsklage, Feststellungsklagen, qualifiziertes Verschulden, Besetzung, Rückgriff, Rechtshängigkeit, nicht bewachten Gelände, unbewachter Parkplatz | ||
Urteil des Monats: | August 2014 |
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 71 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der A (Europe) Ltd (im Folgenden: A Europe) und B Transport BV (im Folgenden: B Transport ) wegen Zahlung eines Ausgleichs von 500 000 Euro als Entschädigung für einen Schaden, der bei einer Beförderung von Waren im internationalen Straßengüterverkehr entstanden ist.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 44/2001
Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt es:
Die Gemeinschaft hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Zum schrittweisen Aufbau dieses Raums hat die Gemeinschaft unter anderem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Maßnahmen zu erlassen.“
Der sechste Erwägungsgrund dieser Verordnung lautet:
„Um den freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zu gewährleisten, ist es erforderlich und angemessen, dass die Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen im Wege eines Gemeinschaftsrechtsakts festgelegt werden, der verbindlich und unmittelbar anwendbar ist.“
Die Erwägungsgründe 11, 12 und 15 bis 17 dieser Verordnung stellen klar:
„(11) Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein, außer in einigen genau festgelegten Fällen …
(12) Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind.
…
(15) Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. …
(16) Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Gemeinschaft rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, außer im Falle der Anfechtung, von Rechts wegen, ohne ein besonderes Verfahren, anerkannt werden.
(17) Aufgrund dieses gegenseitigen Vertrauens ist es auch gerechtfertigt, dass das Verfahren, mit dem eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung für vollstreckbar erklärt wird, rasch und effizient vonstattengeht. …“
Der 25. Erwägungsgrund der Verordnung ist wie folgt gefasst:
„Um die internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten eingegangen sind, zu wahren, darf sich diese Verordnung nicht auf von den Mitgliedstaaten geschlossene Übereinkommen in besonderen Rechtsgebieten auswirken.“
Art. 1 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:
„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.
(2) Sie ist nicht anzuwenden auf:
a) den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von natürlichen Personen, die ehelichen Güterstände, das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts;
b) Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren;
c) die soziale Sicherheit;
d) die Schiedsgerichtsbarkeit.“
Art. 27 in Kapitel II („Zuständigkeit“) Abschnitt 9 („Rechtshängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren“) der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“
Art. 32 in Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“) der Verordnung sieht vor:
„Unter ‚Entscheidung‘ im Sinne dieser Verordnung ist jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung zu verstehen, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder Vollstreckungsbescheid, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten.“
Art. 33 der Verordnung Nr. 44/2001, der in Kapitel III Abschnitt 1 („Anerkennung“) enthalten ist, bestimmt:
„(1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.
(2) Bildet die Frage, ob eine Entscheidung anzuerkennen ist, als solche den Gegenstand eines Streites, so kann jede Partei, welche die Anerkennung geltend macht, in dem Verfahren nach den Abschnitten 2 und 3 dieses Kapitels die Feststellung beantragen, dass die Entscheidung anzuerkennen ist.
(3) Wird die Anerkennung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Entscheidung von der Anerkennung abhängt, verlangt, so kann dieses Gericht über die Anerkennung entscheiden.“
Art. 71 der Verordnung, der in Kapitel VII („Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten“) enthalten ist, lautet:
„(1) Diese Verordnung lässt Übereinkünfte unberührt, denen die Mitgliedstaaten angehören und die für besondere Rechtsgebiete die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln.
(2) Um eine einheitliche Auslegung des Absatzes 1 zu sichern, wird er in folgender Weise angewandt:
a) Diese Verordnung schließt nicht aus, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, der Vertragspartei eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet ist, seine Zuständigkeit auf ein solches Übereinkommen stützt, und zwar auch dann, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, der nicht Vertragspartei eines solchen Übereinkommens ist. In jedem Fall wendet dieses Gericht Artikel 26 dieser Verordnung an.
b) Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat von einem Gericht erlassen worden sind, das seine Zuständigkeit auf ein Übereinkommen über ein besonderes Rechtsgebiet gestützt hat, werden in den anderen Mitgliedstaaten nach dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt.
Sind der Ursprungsmitgliedstaat und der ersuchte Mitgliedstaat Vertragsparteien eines Übereinkommens über ein besonderes Rechtsgebiet, welches die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen regelt, so gelten diese Voraussetzungen.
In jedem Fall können die Bestimmungen dieser Verordnung über das Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen angewandt werden.“
Das CMR
Das am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichnete Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr in der Fassung des am 5. Juli 1978 in Genf unterzeichneten Protokolls (im Folgenden: CMR) gilt nach seinem Art. 1 Abs. 1 „für jeden Vertrag über die entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen, wenn der Ort der Übernahme des Gutes und der für die Ablieferung vorgesehene Ort … in zwei verschiedenen Staaten liegen, von denen mindestens einer ein Vertragsstaat ist[,] … ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit der Parteien“.
Das CMR wurde im Rahmen der Wirtschaftskommission für Europe der Vereinten Nationen ausgehandelt. Über 50 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich der Niederlande, sind dem CMR beigetreten.
Art. 23 CMR lautet:
„1. Hat der Frachtführer aufgrund der Bestimmungen dieses Übereinkommens für gänzlichen oder teilweisen Verlust des Gutes Schadensersatz zu leisten, so wird die Entschädigung nach dem Wert des Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme zur Beförderung berechnet.
…
3. Die Entschädigung darf jedoch 8,33 Rechnungseinheiten für jedes fehlende Kilogramm des Rohgewichts nicht übersteigen.
4. Außerdem sind – ohne weiteren Schadensersatz – Fracht, Zölle und sonstige aus Anlass der Beförderung des Gutes entstandene Kosten zurückzuerstatten, und zwar im Falle des gänzlichen Verlustes in voller Höhe, im Falle des teilweisen Verlustes anteilig.
…
7. Die in diesem Übereinkommen genannte Rechnungseinheit ist das Sonderziehungsrecht des Internationalen Währungsfonds. Der in Absatz 3 genannte Betrag wird in die Landeswährung des Staates des angerufenen Gerichts umgerechnet …
…“
Art. 29 CMR sieht vor:
„1. Der Frachtführer kann sich auf die Bestimmungen dieses Kapitels, die seine Haftung ausschließen oder begrenzen oder die Beweislast umkehren, nicht berufen, wenn er den Schaden vorsätzlich oder durch ein ihm zur Last fallendes Verschulden verursacht hat, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichsteht.
2. Das Gleiche gilt, wenn Bediensteten des Frachtführers oder sonstigen Personen, deren er sich bei Ausführung der Beförderung bedient, Vorsatz oder ein dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden zur Last fällt, wenn diese Bediensteten oder sonstigen Personen in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln. In solchen Fällen können sich auch die Bediensteten oder sonstigen Personen hinsichtlich ihrer persönlichen Haftung nicht auf die in Absatz 1 bezeichneten Bestimmungen dieses Kapitels berufen.“
In Art. 31 CMR heißt es: „1. Wegen aller Streitigkeiten aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden Beförderung kann der Kläger, außer durch Vereinbarung der Parteien bestimmte Gerichte von Vertragsstaaten, die Gerichte eines Staates anrufen, auf dessen Gebiet
a) der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt, seine Hauptniederlassung oder die Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat, durch deren Vermittlung der Beförderungsvertrag geschlossen worden ist, oder
b) der Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegt. Andere Gerichte können nicht angerufen werden.
2. Ist ein Verfahren bei einem nach Absatz 1 zuständigen Gericht wegen einer Streitigkeit im Sinne des genannten Absatzes anhängig oder ist durch ein solches Gericht in einer solchen Streitsache ein Urteil erlassen worden, so kann eine neue Klage wegen derselben Sache zwischen denselben Parteien nicht erhoben werden, es sei denn, dass die Entscheidung des Gerichtes, bei dem die erste Klage erhoben worden ist, in dem Staat nicht vollstreckt werden kann, in dem die neue Klage erhoben wird.
3. Ist in einer Streitsache im Sinne des Absatzes 1 ein Urteil eines Gerichts eines Vertragsstaats in diesem Staat vollstreckbar geworden, so wird es auch in allen anderen Vertragsstaaten vollstreckbar, sobald die in dem jeweils in Betracht kommenden Staat hierfür vorgeschriebenen Formerfordernisse erfüllt sind. Diese Formerfordernisse dürfen zu keiner sachlichen Nachprüfung führen.
4. Die Bestimmungen des Absatzes 3 gelten für Urteile im kontradiktorischen Verfahren, für Versäumnisurteile und für gerichtliche Vergleiche, jedoch nicht für nur vorläufig vollstreckbare Urteile sowie nicht für Verurteilungen, durch die dem Kläger bei vollständiger oder teilweiser Abweisung der Klage neben den Verfahrenskosten Schadenersatz und Zinsen auferlegt werden.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Der Vorlageentscheidung und den bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereichten Akten des innerstaatlichen Verfahrens ist zu entnehmen, dass C im August 2007 die Gesellschaften niederländischen Rechts D und D Euro Cargo BV (im Folgenden: D Euro) beauftragte, eine Reihe ihrer Produkte im Straßengüterverkehr von den Niederlanden nach Deutschland zu befördern.
D Euro beauftragte B Transport mit der Durchführung dieser Beförderung. Diese Gesellschaft übertrug die Durchführung der Beförderungsdienstleistung wiederum als Unterfrachtführer der E BV (im Folgenden: E). Die Beförderung wurde schließlich von K… als dem von E benannten Frachtführer durchgeführt.
Die Ladung wurde am 22. August 2007 an zwei Lagern von C in den Niederlanden aufgenommen und sollte am 23. August 2007 in Deutschland angeliefert werden. Nach Übernahme der Ladung verließ der Fahrer am 22. August 2007 A… (Niederlande) in Richtung des Betriebsgeländes von C in W…. (Deutschland), wo er am selben Tag zu so fortgeschrittener Zeit ankam, dass die Ladung nicht mehr entladen werden konnte, so dass er den LKW über Nacht auf dem nicht bewachten Gelände des Empfängers abstellte. In der Nacht wurde die Ladung teilweise entwendet.
C rief am 27. August 2007 die 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Krefeld (Deutschland) an, um von D und D Euro Schadensersatz zu erlangen. Diese verpflichteten sich in einem gerichtlichen Vergleich vom 1. März 2010 gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 500 000 Euro. Mit diesem Betrag sollte der in der Nacht vom 22. auf den 23. August 2007 entstandene Transportschaden abgegolten werden.
Am 29. September 2010 machte A Europe eine Rückgriffsklage gegen B Transport bei der 2. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Krefeld anhängig und beantragte, diese zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe des Betrags zu verurteilen, den sie als Verkehrshaftpflichtversicherer von D und D Euro an C gezahlt hatte (im Folgenden: Rückgriffs- oder Leistungsklage).
Am 21. Januar 2009, also mehr als anderthalb Jahre vor Erhebung der Leistungsklage, hatte B Transport bereits in den Niederlanden gegen D und D Euro ein negatives Feststellungsurteil über denselben Sachverhalt erstritten (im Folgenden: negatives Feststellungsurteil). Nach diesem seit November 2010 rechtskräftigen Urteil der F Bank (Niederlande) hatte B Transport für den Schaden lediglich bis zum Höchsthaftungsbetrag gemäß Art. 23 CMR zu haften.
A Europe ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen eines vorsätzlichen oder schuldhaften Verhaltens im Sinne von Art. 29 Abs. 2 CMR bei B Transport vorlägen und dass das Landgericht Krefeld trotz der Existenz des negativen Feststellungsurteils gemäß Art. 31 Abs. 1 CMR für die Entscheidung über die Leistungsklage zuständig sei, da dieser Artikel autonom auszulegen sei und nach Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dem Art. 27 der Verordnung vorgehe.
B Transport macht geltend, dass das Verfahren vor dem Landgericht Krefeld nach Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 und Art. 31 Abs. 2 CMR wegen des rechtskräftigen negativen Feststellungsurteils, das zuvor in den Niederlanden ergangen sei, nicht weiter betrieben werden könne. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie allenfalls bis zu dem in Art. 23 Abs. 3 CMR vorgesehenen Höchstbetrag hafte.
Das vorlegende Gericht teilt den Standpunkt von B Transport zur Rechtskraft des negativen Feststellungsurteils und setzt sich kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Deutschland) auseinander, wie sie sich aus seinen Entscheidungen vom 20. November 2003 (I ZR 102/02 und I ZR 294/02) ergebe. Nach dieser Rechtsprechung sei das CMR ungeachtet des Urteils des Gerichtshofs vom 6. Dezember 1994, Tatry (C‑406/92, Slg. 1994, I‑5439), autonom auszulegen, so dass die Rechtshängigkeit einer vom Schuldner gegen den Gläubiger erhobenen negativen Feststellungsklage vor einem international zuständigen Gericht – gerichtet auf die Feststellung, dass dieser vermeintliche Schuldner nicht für einen Schaden verantwortlich sei – der späteren Erhebung einer Leistungsklage durch den Rechtsnachfolger des Gläubigers vor dem zuständigen Gericht eines anderen Vertragsstaats des CMR nicht entgegenstehe.
Nach Ansicht des Landgerichts Krefeld haben die bei ihm erhobene Leistungsklage und das negative Feststellungsurteil denselben Gegenstand, sind auf denselben Anspruch gestützt und betreffen dieselben Parteien, da A Europe Rechtsnachfolgerin von D und D Euro sei. Aus diesem Grund hält das Gericht es für mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz und der Vermeidung von Parallelverfahren nicht vereinbar, wenn die Stellen eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Leistungsklage auf der Grundlage einer bestimmten Auslegung eines Übereinkommens im Sinne von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 einem negativen Feststellungsurteil, das zuvor über denselben Gegenstand ergangen sei, die Anerkennung versagten.
Das vorlegende Gericht vertritt den Standpunkt, dass das Urteil vom 4. Mai 2010, … Express Nederland (C‑533/08, Slg. 2010, I‑4107, Randnr. 63 und Tenor), in dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass er für die Auslegung von Art. 31 CMR nicht zuständig sei, die vorliegende Rechtssache nicht präjudiziere.
Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht Krefeld beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 einer Auslegung eines Übereinkommens entgegen, welche ausschließlich autonom erfolgt, oder sind bei der Anwendung solcher Übereinkommen auch Ziele und Wertungen der Verordnung zu berücksichtigen?
2. Steht Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 einer Auslegung eines Übereinkommens entgegen, wonach eine in einem Mitgliedstaat entschiedene Feststellungsklage einer zeitlich nachrangig erhobenen Leistungsklage in einem anderen Mitgliedstaat nicht entgegensteht, soweit dieses Übereinkommen insoweit auch eine Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 entsprechende Auslegung ermöglicht?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
A Europe und die deutsche Regierung werfen zunächst die Frage der Zuständigkeit des Gerichtshofs auf. Sie machen im Wesentlichen geltend, dass die Fragen zu Art. 31 CMR gestellt seien, aber der Gerichtshof für die Auslegung dieses Übereinkommens nicht zuständig sei.
Insoweit ist es zwar zutreffend, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung im Wege einer Vorabentscheidung nur Vorschriften erfasst, die Teil des Unionsrechts sind, und dass, wie in Randnr. 63 des Urteils … Express Nederland entschieden worden ist, der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 31 CMR nicht zuständig ist.
Indessen bezog sich zwar im Urteil … Express Nederland (Randnrn. 32 und 57) die zweite Vorlagefrage auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Art. 31 CMR, aber in der vorliegenden Rechtssache ist dies nicht der Fall.
Hierzu genügt die Feststellung, dass die Vorlagefragen schon nach ihrem Wortlaut die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts betreffen, nämlich von Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001, für deren Auslegung der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zuständig ist.
Demnach ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig.
Zur Begründetheit
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, ein internationales Übereinkommen in einer Weise auszulegen, die die Ziele und Grundsätze beeinträchtigt, die der Verordnung zugrunde liegen.
Der Gerichtshof hat diese Frage in seiner Rechtsprechung bereits beantwortet.
Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass nach Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 in den durch besondere Übereinkommen wie das CMR geregelten Rechtsgebieten zwar diese Übereinkommen zur Anwendung kommen, diese Anwendung aber nicht die Grundsätze beeinträchtigen darf, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Europäischen Union beruht. Dazu gehören die in den Erwägungsgründen 6, 11, 12 und 15 bis 17 der Verordnung genannten Grundsätze des freien Verkehrs der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, der Vorhersehbarkeit der zuständigen Gerichte und somit der Rechtssicherheit für die Bürger, der geordneten Rechtspflege, der möglichst weitgehenden Vermeidung der Gefahr von Parallelverfahren und des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz im Rahmen der Union (vgl. Urteil … Express Nederland, Randnr. 49).
Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 darf in seiner Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren, die der Regelung, zu der dieser Artikel gehört, zugrunde liegen. Deshalb ist dieser Artikel nicht so auszulegen, dass ein besonderes Übereinkommen wie das CMR in einem von dieser Verordnung erfassten Bereich wie der Beförderung von Waren im Güterkraftverkehr zu weniger günstigen Ergebnissen im Hinblick auf das Ziel des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts führen könnte als die Bestimmungen der genannten Verordnung (vgl. Urteil .. Express Nederland, Randnr. 51).
Demzufolge sind die einschlägigen Bestimmungen des CMR im Rahmen der Union nur dann
anwendbar, wenn sie es gestatten, die Ziele des freien Verkehrs der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz im Rahmen der Union unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen zu erreichen wie bei Anwendung der Verordnung Nr. 44/2001 (vgl. in diesem Sinne Urteil … Express Nederland, Randnr. 55).
Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, ein internationales Übereinkommen in einer Weise auszulegen, die die Wahrung der dieser Verordnung zugrunde liegenden Ziele und Grundsätze nicht unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleistet wie denen, die diese Verordnung vorsieht.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass er einer Auslegung von Art. 31 Abs. 2 CMR entgegensteht, wonach eine negative Feststellungsklage oder ein negatives Feststellungsurteil in einem Mitgliedstaat nicht denselben Anspruch betrifft wie eine wegen desselben Schadens zwischen denselben Parteien oder ihren Rechtsnachfolgern in einem anderen Mitgliedstaat anhängig gemachte Rückgriffsklage.
Zur Beantwortung dieser Frage ist unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Vorlagefrage zu prüfen, ob eine solche Auslegung von Art. 31 Abs. 2 CMR die Wahrung der der Verordnung Nr. 44/2001 zugrunde liegenden Ziele und Grundsätze unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleistet, wie sie in Art. 27 oder anderen Bestimmungen dieser Verordnung vorgesehen sind.
Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 27 der Verordnung Nr. 44/2001 eine Klage wie die Rückgriffsklage im Ausgangsverfahren, die auf die Feststellung, dass der Beklagte für einen Schaden haftet, und auf seine Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist, denselben Anspruch betrifft wie eine von dem entsprechenden Beklagten erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden nicht haftet (vgl. in diesem Sinne Urteile …, Randnr. 45, und vom 25. Oktober 2012, … und …, C‑133/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 49).
Im vorliegenden Fall wurde nach Erlass des negativen Feststellungsurteils der F Bank im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR, das aufgrund derselben rechtlichen und tatsächlichen Umstände und zwischen denselben Parteien erging, eine Rückgriffsklage beim vorlegenden Gericht anhängig gemacht.
Es ist festzustellen, dass die Auslegung dieser Bestimmung des CMR in dem Sinne, dass diese Klage und dieses Urteil nicht denselben Anspruch betreffen, die Wahrung des Ziels einer möglichst weitgehenden Vermeidung der Gefahr von Parallelverfahren nicht unter ebenso günstigen Bedingungen gewährleisten würde wie denen, die die Verordnung Nr. 44/2001 vorsieht. Dieses Ziel zählt jedoch, wie in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufen worden ist, zu den Zielen und Grundsätzen, die der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen im Rahmen der Union zugrunde liegen.
In diesem Zusammenhang ist es ohne Belang, dass das Urteil der F Bank kurz nach Erhebung der Rückgriffsklage beim vorlegenden Gericht rechtskräftig geworden ist, nämlich, laut der Vorlageentscheidung, im November 2010 oder, nach den Angaben von E in der mündlichen Verhandlung, am 1. März 2011.
Der Umstand, dass dieses Urteil rechtskräftig geworden ist, hätte dann, wenn in dieser Rechtssache nicht das CMR, sondern die Verordnung Nr. 44/2001 anwendbar gewesen wäre, zur Folge gehabt, dass nicht nur die Bestimmungen dieser Verordnung über die Rechtshängigkeit, sondern auch die Bestimmungen der Verordnung über die Anerkennung und damit insbesondere ihr Art. 33 Anwendung gefunden hätten.
Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, können aber im Rahmen der Union Regelungen wie Art. 31 Abs. 2 CMR, die in besonderen Übereinkommen im Sinne von Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehen sind, nur zur Anwendung kommen, wenn die Grundsätze des freien Verkehrs von Entscheidungen und des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz eingehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil … Express Nederland, Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Diese Grundsätze würden nicht unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen wie den in der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen eingehalten, wenn Art. 31 Abs. 2 CMR dahin ausgelegt würde, dass ein negatives Feststellungsurteil in einem Mitgliedstaat nicht denselben Anspruch betrifft wie eine Rückgriffsklage wegen desselben Schadens und zwischen denselben Parteien oder deren Rechtsnachfolgern in einem anderen Mitgliedstaat.
Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass er einer Auslegung von Art. 31 Abs. 2 CMR entgegensteht, wonach eine negative Feststellungsklage oder ein negatives Feststellungsurteil in einem Mitgliedstaat nicht denselben Anspruch betrifft wie eine wegen desselben Schadens zwischen denselben Parteien oder deren Rechtsnachfolgern in einem anderen Mitgliedstaat anhängig gemachte Leistungsklage.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 71 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es ihm zuwiderläuft, ein internationales Übereinkommen in einer Weise auszulegen, die die Wahrung der dieser Verordnung zugrunde liegenden Ziele und Grundsätze nicht unter mindestens ebenso günstigen Bedingungen gewährleistet wie denen, die diese Verordnung vorsieht.
2. Art. 71 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass er einer Auslegung von Art. 31 Abs. 2 des am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr in der Fassung des am 5. Juli 1978 in Genf unterzeichneten Protokolls entgegensteht, wonach eine negative Feststellungsklage oder ein negatives Feststellungsurteil in einem Mitgliedstaat nicht denselben Anspruch betrifft wie eine wegen desselben Schadens zwischen denselben Parteien oder ihren Rechtsnachfolgern in einem anderen Mitgliedstaat anhängig gemachte Leistungsklage.
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