Erläuterungen zum Prüfwinkel der Neigungsprüfung nach DIN EN 12195-1:2011
Aufsatz von Prof. Hermann Kaps


Die Erläuterungen der genannten Norm zum Prüfwinkel sind zugegebenermaßen umständlich verfasst und auch unvollständig hinsichtlich der Anwendung auf andere Verkehrsbereiche (Seetransport, Schienentransport), in denen cZ nicht gleich 1,0 ist.

Das hat zur Folge, dass zahlreiche Anwender vor einer näheren Befassung mit der Materie zurückschrecken und statt dessen versuchen, mit ihren eigenen Grundkenntnissen der Mechanik die Lösung der gestellten Aufgabe zu versuchen. Diese Aufgabe lautet:

Welchen Neigungswinkel muss eine Versuchsebene (Ladefläche) einnehmen, damit eine zu prüfende Sicherungsanordnung einer Beanspruchung ausgesetzt wird, die einem definierten Lastfall mit
z.B. 0,8 g Beschleunigung bei waagerechter Ladefläche entspricht?

Hier wird oft der Fehler begangen, dass die Aufgabenstellung vereinfacht wird zu:

Welchen Neigungswinkel muss eine Versuchsebene (Ladefläche) einnehmen, damit eine zu prüfende Sicherungsanordnung einer definierten Beschleunigung
von z.B. 0,8 g, ausgesetzt wird?


Liefert die Sinusfunktion den richtigen Prüfwinkel?

Auf die vereinfachte Fragestellung gibt es eine einfache Antwort. Gesucht ist der reine Hang-abtrieb aus dem Ladungsgewicht. Der Hangabtrieb wächst bekanntlich mit dem Sinus der Neigung einer schiefen Ebene und deshalb muss der Arcussinus des Beschleunigungsbei-werts den Prüfwinkel liefern. Mit dem Beschleunigungsbeiwert von beispielsweise cX = 0,8 ergibt sich der Neigungswinkel von 53,13°, weil der Sinus von 53,13° den Wert 0,8 hat.

Dieses Ergebnis ist jedoch falsch, weil es nicht der eigentlichen Fragestellung entspricht. Tatsächlich soll die spezielle Sicherungsanordnung untersucht werden, zu deren Beurteilung nicht nur die zu prüfende Sicherungsmaßnahme (z.B. Schrumpffolie oder Wickelfolie), son-dern auch die flankierenden Wirkungen der Standflächenreibung und des Eigenstandmo-ments gehören. Diese flankierenden Wirkungen werden jedoch durch den Prüfwinkel beeinträchtigt und genau das muss berücksichtigt werden. Das wird an einem Beispiel erläutert:

Eine Ladungseinheit mit dem Gewicht G = 1000 daN steht auf einer Palette mit einer Zwischenlage aus Anti-Rutschmaterial mit einem Reibbeiwert μ = 0,6. Sie ist zusätzlich mit einer Wickelfolie so gesichert worden, dass sie bei 0,8 g Bremsverzögerung gerade nicht auf der Palette rutscht. Dieser Sachverhalt kann mit einer einfachen Bilanz dargestellt werden:

cx · G = μ · G + SW (SW = Sicherungswirkung der Folie)

Das Beispiel in Zahlen:

Trägheitskraft cX · G = 0,8 · 1000 = 800 daN

Reibung R = μ · G = 0,6 · 1000 = 600 daN

erforderliche Wirkung der Folie = 200 daN


Abbildung

Bild 1: Reale Sicherungsanordnung mit ausgeglichener Bilanz

Die Sicherungswirkung der Folie von SW = 200 daN reicht also gerade aus. Würde man aber jetzt die Neigungsprüfung mit dieser Folie und dem falschen Winkel von φ = 53,13° durchführen, so bekäme man folgende Bilanz:

G · sinφ > μ · G · cosφ + SW

In Zahlen: 800 > 360 + 200 = 560 daN


Abbildung

Bild 2: Neigungsprüfung mit falschen Prüfwinkel – Sicherung versagt

Diese Bilanz zeigt ein Sicherungsdefizit von 240 daN. Der Fehler ist leicht zu erkennen. Die Trägheitskraft von 800 daN ist zwar richtig hergestellt worden, aber der Prüfwinkel hat die Reibung von 600 daN auf 360 daN verringert. Die Ladungseinheit würde infolge des Sicherungsdefizits von der Palette rutschen und man würde als Ergebnis registrieren, dass die Sicherungswirkung der Folie von 200 daN deutlich nicht ausreicht, obwohl sie in der realen Bilanz gerade ausreichend ist.

Um den verringernden Einfluss der Versuchsneigung φ auf die Reibung zu kompensieren, muss der Prüfwinkel kleiner als 53,13° gewählt werden. Der korrekte Prüfwinkel für diese Sicherungsanordnung beträgt φ = 40,84°. Mit diesem Prüfwinkel ist die Bilanz der Neigungsprüfung des obigen Beispiels ausgeglichen:

G · sinφ = μ · G · cosφ + SW

In Zahlen: 653,9 = 453,9 + 200 = 653,9 daN


Abbildung

Bild 3: Neigungsprüfung mit falschen Prüfwinkel – Sicherung versagt

Den korrekten Prüfwinkel liefert der Rechenansatz der Norm. Eine unmittelbare Lösungsformel ist dort leider nicht angegeben. Kapitel 4.2 im neuen Ladungssicherungshandbuch des GDV enthält eine Herleitung der Lösungsformel für den Prüfwinkel. Die Formel lautet:

Abbildung mit r = cX,Yg · cZ

Dabei: g = μ zur Prüfung der Rutschsicherheit bzw. g = b/d zur Prüfung der Kippsicherheit.

Damit steht fest, die Sinus-Funktion liefert nicht den korrekten Prüfwinkel.

Liefert die Tangensfunktion den richtigen Prüfwinkel?

Gelegentlich wird von Anwendern ein weiterer falscher Ansatz vertreten. Dabei wird angenommen, der Prüfwinkel sei gleich dem Arcustangens des zu unterstellenden Beschleunigungsbeiwerts. Mit einem Wert von beispielweise cX = 0,8 ergäbe sich ein Prüfwinkel φ = 38,66°. Möglicherweise wird der Tangens etwas leichtfertig deshalb gewählt, weil er beim Neigungstest für die Bestimmung des Haftreibbeiwerts die entscheidende Rolle spielt. Wie auch immer, auch dieser Winkel ist ohne Berücksichtigung der flankierenden Sicherungswirkungen für die Neigungsprüfung ungeeignet und damit falsch. Das obige Beispiel zeigt folgende Bilanzierung der Neigungsprüfung mit dem falschen Winkel φ = 38,66°:

G · sinφ < μ · G · cosφ + SW

In Zahlen: 624,7 < 468,5 + 200 = 668,5 daN

Hier würde die Neigungsprüfung einen Überschuss auf der Sicherungsseite ergeben, also vortäuschen, dass man auch mit SW = 156,2 daN auskommen könnte, obwohl im realen Lastfall mindestens SW = 200 daN benötigt werden.

Tatsächlich gibt es Grenzfälle, in denen die Prüfwinkel arcsin(cX,Y) und arctan(cX,Y) zutreffend sind. Der Prüfwinkel arcsin(cX,Y) ist richtig bei g = 0 und der Prüfwinkel arctan(cX,Y) ist richtig bei g = cX,Y, also wenn die Reibung bzw. das Eigenstandmoment rechnerisch allein zur Sicherung ausreichen würde. Das gilt allerdings nur, wenn der vertikale Beschleunigungsbeiwert cZ den Wert 1,0 hat.

Was gilt für vertikale Beschleunigungsbeiwerte cZ kleiner als 1,0?

Die vertikalen Beschleunigungsbeiwerte cZ nehmen im Seeverkehr in den Seegebieten A, B, und C für Rutschen und Kippen in Längsrichtung und im Schienenverkehr nur für das Rutschen in Querrichtung kleinere Werte als 1,0 an. Das sehen die DIN EN 12195-1 und auch der neue CTU-Code so vor. Dadurch ändern sich die Prüfwinkel zusätzlich, weil in der Realität die kleineren cZ-Werte wirksam sind, bei der Neigungsprüfung aber die unverfälschte Schwerkraft mit cZ = 1,0 wirkt. Auch dazu wird ein Beispiel gegeben.

Die mit einer Folie gesicherte Ladungseinheit aus dem obigen Beispiel mit G = 1000 daN und dem Reibbeiwert μ = 0,6 auf der Palette soll im Seegebiet C transportiert werden. Dazu ist die Sicherung in Längsrichtung für die Beschleunigungsbeiwerte cX = 0,4 bei gleichzeitigem cZ = 0,2 auszulegen. Die Bilanz der realen Situation liefert die mindest erforderliche Sicherungswirkung der Folie mit SW = 280 daN.

cX · G = μ · CZ · G + SW

Das Beispiel in Zahlen:

Trägheitskraft cX · G = 0,4 · 1000 = 400 daN

Reibung R = μ · cZ · G = 0,6 · 0,2 · 1000 = 120 daN

erforderliche Wirkung der Folie = 280 daN

Eine vorsorgliche Neigungsprüfung findet jedoch an Land unter unverminderter Schwerkraft statt und soll die erforderliche Sicherungswirkung der Folie von SW = 280 daN bestätigen. Die obige Bestimmungsformel für den Prüfwinkel liefert φ = 44.86°. Die Bilanz hierzu lautet:

G · sinφ = μ · G · cosφ + SW

In Zahlen: 705,3 = 425,3 + 280 = 705,3 daN

Die Bilanz ist ausgeglichen, der Prüfwinkel also korrekt gewählt. Das Beispiel zeigt, dass der richtige Prüfwinkel bei cX = 0,4 und cZ = 0,2 weit über den Werten von arcsin(cX) = 23,56° und arctan(cX) = 21,80° liegt, diese Winkel also beide unsinnig sein müssen.


Fazit:

Auch wenn in Richtlinien und Normen hin und wieder Fehler enthalten sein können, ist in diesem Falle die Bestimmung des Prüfwinkels für die Neigungsprüfung in der Norm EN 12195-1:2010 bzw. in der deutschen Fassung DIN EN 12195-1:2011 korrekt dargestellt worden. Somit ist es unerlässlich, die Neigungsprüfung normgerecht und mit den durch die Lösungsformel ermittelten Prüfwinkeln durchzuführen, wenn ein mit der Realität konformes Ergebnis gewünscht wird.

Die Lösungsformel kann mit einem einfachen Excel-Programm (Hier können Sie die Excel-Vorlage zur Bestimmung des Prüfwinkels herunterladen) ausgewertet werden. Ebenso können die Prüfwinkel der Tabelle am Ende von Kapitel 4.3 des neuen Ladungssicherungshandbuchs des GDV entnommen werden.



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